Das Loch im Eimer flicken

Das Loch im Eimer flicken

Reisebericht von Kirsten Boie, August 2014

Für mich hat diese Reise einmal mehr und wieder sehr konkret die Bestätigung dafür gebracht, dass wir mit dem derzeitigen Konzept von LITSEMBA Medical Outreach Swasiland auf dem richtigen Weg sind – und warum.
Schon am zweiten Tag dieser Reise hatten wir eine traurige Begegnung: Wir haben mit dem medizinischen Team eine sehr junge Mutter dreier Kinder in ihrer Hütte besucht. Seit drei Jahren weiß sie, dass sie HIV positiv ist – aber vor ihrer Familie, vor allem vor ihrer Mutter, hatte sie das bisher verheimlicht. Auch in Swasiland bedeutet HIV noch ein großes Stigma. Die Frau hatte Fieber, starke Schmerzen, krümmte sich – aber eine genaue Diagnose konnte unsere Ärztin unter den eingeschränkten Bedingungen in der Hütte nicht stellen. Und dass es der Frau sehr, sehr schlecht ging, konnte jeder Laie erkennen. Hatte sie ihre Medikamente etwa nicht regelmäßig genommen? Wie hätte sie das wohl tun sollen, wenn niemand wissen durfte, dass sie infiziert war, und die Medikamente müssen einmal im Monat viele Kilometer weit entfernt abgeholt werden? Wie hätte sie diese ständigen Abwesenheiten erklären sollen?
Wir haben uns mit LITSEMBA Medical Outreach Swasiland in der Anfangsphase auf die medizinische Versorgung der von AIDS betroffenen Kinder an den NCPs konzentriert. Ausgangspunkt war: Zunächst müssen Ernährung und Betreuung der Kinder sichergestellt sein; danach aber muss sich auch irgendwer um ihre Gesundheit kümmern, zumal die Clinics (Krankenstationen ohne Ärzte, nur mit Krankenschwestern) oft so weit entfernt sind, dass die Kinder sie niemals erreichen könnten. Frau Dr. Budach, unsere ärztliche Leiterin, hat schon früh darauf gedrängt, dass es nicht nur um Versorgung von Wunden, um Erkältungen und Kinderkrankheiten gehen sollte: Wie in Deutschland sollte regelmäßig das Gewicht der Kinder kontrolliert werden, sollte Prävention im Vordergrund stehen: Die Kinder an unseren NCPs bekommen daher alle relevanten Impfungen, sie bekommen Vitamingaben und Entwurmungstabletten, und unser vorrangiges Ziel ist es, sie gar nicht erst krank werden zu lassen.
Aber mit den Kindern kamen auch die Erwachsenen zu den Sprechstunden in den NCPs, vor allem die Alten: Auch für sie sind die Wege zu den Clinics zu weit, auch sie haben Beschwerden: Und wenn schon ein Ambulanzteam vor Ort ist, warum sollte es sich nicht auch um sie kümmern? Das war der zweite Schritt: Mit dem Gesundheitsministerium wurde ein Abkommen unterzeichnet, das es unseren Krankenschwestern gestattet, nun auch die Erwachsenen zu behandeln. Der Ansturm ist gewaltig. Und es sind schließlich genau diese verbliebenen Erwachsenen, die sich um die Kinder kümmern müssen. Auch ihre Gesundheit ist uns wichtig.
Dann, vor etwa eineinhalb Jahren, kam der dritte Schritt. Durch die Beobachtungen an den NCPs, die Gespräche mit den Menschen, vor allem aber durch den regelmäßigen Austausch mit MSF („Ärzte ohne Grenzen“) in der Distrikt-Hauptstadt Nhlangano wurde immer deutlicher, dass alle medizinische Betreuung Flickwerk bleiben muss, solange wir uns nicht in dem uns möglichen Rahmen auch des drängendsten Problems in Swasiland annehmen: Der Bekämpfung von HIV. Und unsere Bedingungen sind dafür optimal. Wir haben die Menschen an den NCPs bereits versammelt, unser medizinisches Team besucht sie ohnehin regelmäßig und sie kommen in Scharen: Nirgendwo sonst ist es so leicht möglich, viele Menschen auf einmal auf HIV zu testen, vor allem MSF („Ärzte ohne Grenzen“) ermunterte uns darum immer wieder, uns hier zu engagieren – denn in die weit entlegenen Clinics gehen die Menschen zum Testen erst, wenn sie erste Krankheitssymptome spüren. Die einheimische Organisation NATTIC stellte eine (großartige!) qualifizierte Testerin und Beraterin, die mit unserem Team zu den Sprechstunden fährt, das Gesundheitsministerium unterschrieb ein Abkommen – und seitdem wird an unseren NCPs regelmäßig bei jedem Besuch des medizinischen Teams auf HIV getestet. Die positiv getesteten Menschen werden dann an eine Clinic weiter verwiesen, wo zusätzliche Tests und Laboruntersuchungen durchgeführt werden und mit der Medikation begonnen werden kann.  Wir hoffen allerdings sehr, dass wir demnächst auch die Medikamente gegen HIV an den NCPs ausgeben können, wenn uns nämlich „Ärzte ohne Grenzen“ (wie auf dieser Reise versprochen) ein weiteres Ambulanzfahrzeug übergibt, für das wir nur das Team bereitstellen müssen. Denn genau wie wir beobachtet „Ärzte ohne Grenzen“, dass auch HIV infizierte Menschen häufig nicht den einmal im Monat nötigen weiten Weg zu einer Clinic auf sich nehmen, um regelmäßig ihre Medikamente zu bekommen. (Man denke an die dreifache Mutter in ihrer Hütte.) Darum ist es ein gemeinsames Interesse, dass diese Menschen ihre Medikamente gleich bei uns an den NCPs in ihrer direkten Nachbarschaft bekommen.
Von der Ausgangsüberlegung, nur die an den NCPs betreuten Kinder medizinisch zu versorgen, bis zum jetzigen Konzept mit dem Schwerpunkt auf AIDS-Prävention (und hoffentlich bald: Medikation) für Kinder wie Erwachsene war es ein weiter Weg in rasend kurzer Zeit. Aber ein logischer Weg: Natürlich müssen die Kinder versorgt werden mit Nahrung und Kleidung und Betreuung – auch diesen Feldern wird weiterhin unsere Arbeit gelten (vgl. Bericht von Gerhard Grotz). Aber wer schüttet immerzu Wasser in einen Eimer mit einem Loch? Wer versucht nicht zunächst das Loch zu flicken? Am Allerwichtigsten in Swasiland ist es, die weitere Ausbreitung von HIV, häufig kombiniert mit TB, zu stoppen, sonst wird es immer mehr AIDS-Waisen geben, die an immer mehr NCPs versorgt werden müssen. Die HIV-Infektionen sind das Loch im Eimer. Dieses Loch zu flicken: Daran arbeiten wir mit, in intensiver Zusammenarbeit mit NATTIC und „Ärzte ohne Grenzen“, und dafür bitten wir um Unterstützung.
Warum es so wichtig ist, dass diese Arbeit durch einheimisches Personal und nicht durch fremde Ärzte geleistet wird, haben wir auf dieser Reise wieder eindrucksvoll erlebt. Jeder Besuch unseres medizinischen Teams an einem NCP beginnt mit einem Gebet auf siSwati, einem gemeinsamen (Kirchen-)Lied und einer flammenden Ansprache unserer medizinischen Koordinatorin Agnes Dlamini. Mit großer Autorität hat sie dieses Mal erklärt, wie die Kinder vor der zur Zeit grassierenden Rotavirus-Epidemie geschützt werden können, an der in den letzten Wochen immer mehr Kleinkinder gestorben sind. Danach aber geht es bei jedem Besuch um HIV und darum, dass jeder der Anwesenden sich testen lassen sollte. „Ich sage ihnen: Seid ehrlich – ihr geht doch alle zum Sangoma (Geistheiler), damit er die Knochen wirft und euch sagt, ob ihr die Krankheit habt oder nicht! Warum lasst ihr uns nicht für euch die Knochen werfen, auf unsere Weise? Dann kriegt ihr auch gleich die Medikamente, die euch wirklich helfen, damit ihr noch ein langes Leben haben könnt, selbst wenn das Ergebnis zeigt, dass ihr euch angesteckt habt. Unsere Knochen sind besser.“
Und Cynthia, die leidenschaftliche und energische Testerin und Beraterin, erzählt: „Mein Mann ist Pastor, und genau wie er sage ich den Menschen: „Soso, ihr glaubt, dass es bei HIV und AIDS genügt fromm zu sein und zu beten? Ihr sagt, ich bin Christ, ich glaube daran, dass Gott alles kann, und schließlich kann Gott ja Wunder tun? Dann sage ich euch: Ja, Gott kann Wunder tun! Aber wenn er uns erst mal Medikamente gegeben hat, dann ist das das Wunder, dann tut er keine weiteren Wunder mehr. Damit ist dann Schluss. Dann will er nämlich, dass wir uns selber helfen. Das will Gott, und das tut jetzt mal!“
Auch in Swasiland lassen die Menschen sich nicht gern testen. An unseren NCPs steigt ihre Zahl trotzdem kontinuierlich. Das haben wir ganz sicher auch den sehr afrikanischen Erklärungen von Agnes und Cynthia zu verdanken.

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